Die Orchesterwerke Beethovens im „Breitkopf Urtext“

Ludwig van Beethoven bei Breitkopf & Härtel

Zum großen 250. Beethoven-Geburtstag im Dezember 2020 ließe sich viel Vergangenes erzählen – vor allem auch zum Thema „Beethovens Orchesterwerke bei Breitkopf & Härtel“.

[The English translation of the article can be found here.]

Dank der Initiative Gottfried Christoph Härtels erschienen zwischen 1808 und 1812 u.a. die Erstausgaben der 5. und der 6. Symphonie, der C-dur-Messe und des heute für Kirchenkonzerte wieder verstärkt entdeckten Oratoriums Christus am Ölberge. Wir sind also Beethoven-Orchesterverlag der ersten Stunde. Aber eigentlich ist das doch alles hinlänglich bekannt – und letztlich für die Konzertpraxis heute höchstens eine schöne Erinnerung. Wesentlicher ist die Tatsache, dass Breitkopf & Härtel heute Beethovens Orchesterwerke in mustergültigen (Urtext-)Ausgaben anbietet, und dies teils sogar mehrfach. Es gibt also zahlreiche „gute und authentische Gründe, Beethoven bei Breitkopf & Härtel zu kaufen“ – schreibt mit Fug und Recht Verlagsleiter Nick Pfefferkorn im Vorwort zum Katalog „Neuerscheinungen 2–2019“. Wie es zu diesem erstaunlichen (Über-)Angebot kam? Sechs Etappen haben uns zum Ziel geführt. Freuen Sie sich also mit uns auf das Jahr 2020 – und, in Sichtweite auf den 200. Todestag Beethovens, auch gleich auf das, was die Musikwelt im März 2027 mit Sicherheit auch intensiv begehen wird!

Repertoirebreite aus Tradition: Beethoven bei Breitkopf & Härtel

Neben etlichen Kammermusikausgaben bot Breitkopf & Härtel seit jeher alle Beethoven-Werke für bzw. mit Orchester an, soweit sie seinerzeit in der epochemachenden Gesamtausgabe (1862–65) erschienen waren. Ergänzt wurde dieses fast vollständige Orchesterprogramm durch praktische Ausgaben nach den Supplementen zur Gesamtausgabe, so vor allem 1967 durch Leonore. Welche Bedeutung der Fassung von 1805 zukommt, darüber berichteten wir anlässlich der Leonore-Produktion des Freiburger Barockorchesters in up to date 1–2018. René Jacobs plädiert darin ausdrücklich zugunsten der Leonore-Urfassung.

1994-2005: Die Neuausgabe der Symphonien

Nach dem Testlauf mit der Chorfantasie op. 80 durch Clive Brown 1993 startet im Jahr darauf die Symphonien-Neuausgabe von Clive Brown und Peter Hauschild mit der 7. Symphonie. Ihr Abschluss – wie könnte es anders sein – erfolgt elf Jahre später mit der 9. Symphonie, symbolträchtig gefeiert durch die zyklische Aufführung aller Symphonien unter der Leitung von Kurt Masur mit dem Orchestre National de France. Die Ausgaben setzen – parallel zum Band der neuen Beethoven-Gesamtausgabe (1. und 2. Symphonie) und zur Neuausgabe durch Jonathan del Mar – hohe Maßstäbe und erzielen große Aufmerksamkeit. Und sie verdeutlichen von Beginn an die „Philosophie“ unserer Urtext-Ausgaben, die einen möglichst konzentrierten und gleichzeitig durch Fettdruck wichtiger Anmerkungen zielführenden Kritischen Bericht im Band selbst enthalten. Peter Gülke (in der „Österreichischen Musikzeitschrift“): „Der schwierige Spagat zwischen den Erfordernissen praktischer Brauchbarkeit und philologischer Akribie ist auf einem Niveau geglückt, welches die Messlatte für vergleichbare Bemühungen fast beängstigend hoch legt.“

2003ff: Von jetzt an mit Henle-Urtext

Die Übernahme der Orchestermateriale vom G. Henle-Verlag seit der Kooperation 2003 kommt einem Quantensprung gleich. Mit einem Schlag sind alle sieben Solokonzerte (incl. Tripelkonzert) und quasi alle Konzertouvertüren sowie die Missa solemnis auf der Basis der Gesamtausgabenbände und auf dem gewohnt hohen Henle-Urtext-Niveau in unserem Orchesterkatalog. Die Doppelungen (die ersten beiden Symphonien sowie die Chorfantasie) fallen demgegenüber kaum ins Gewicht. In der Folgezeit beginnen die beiden Verlage mit einer weit gefächerten Zusammenarbeit, die im Fall Beethoven u.a. zu den Urtext-Neuausgaben der C-dur-Messe (2007), der Ouvertüre Die Geschöpfe des Prometheus (ebenfalls 2007) und von Christus am Ölberge (2010) führt.

2007: Zwei neue Mosaiksteine

Aber „quasi alle Konzertouvertüren“? Zwei Werke aus der ersten Reihe hatten im Henle-Portfolio gefehlt. Die Rede ist von den viel gespielten Ouvertüren Fidelio und Leonore Nr. 3, deren Urtext-Neuausgaben im selben Jahr wie die Prometheus-Ouvertüre erscheinen und das wertvolle Mosaik an diesen beiden Stellen schließen. Herausgeber ist Breitkopf & Härtels Orchesterlektor Christian Rudolf Riedel. Für die Fidelio-Ouvertüre, 1814 in Windeseile (und dann doch mit leichter Verspätung) für die Wiederaufnahme der Oper komponiert, bietet heute die Partiturabschrift in der Österreichischen Nationalbibliothek eine zuverlässige Grundlage. Dieses Manuskript, in dem sich zahllose Korrekturhinweise und Vervollständigungen Beethovens finden, ist die einzige überlieferte Quelle, die der Komponist selbst überprüft hat. Für die Neuausgabe der (irrtümlich) als Nr. 3 gezählten Leonore-Ouvertüre ging Riedel erstmals auf die 1977 wieder entdeckte Prager Partiturabschrift zurück. Sie diente 1806 wahrscheinlich als Dirigierpartitur, und mit ihrer Hilfe ließen sich bislang ungelöste Textprobleme klären.

2012: Notwendiger Luxus – op. 61 doppelt

Die Anregung von Clive Brown, das Violinkonzert Beethovens bei Breitkopf & Härtel in einer eigenen Neuausgabe herauszubringen, war folgenreich. Das Ergebnis: eine Fülle neuer Lesarten in der Partitur, die genauso aufhorchen lassen wie die ausführlich kommentierte Ausgabe für Violine und Klavier. Besonderes Augenmerk verdient dabei das Soloinstrument. Die Ausgabe enthält neben der Urtext-Solostimme eine historisch-informiert eingerichtete Stimme mit Fingersätzen und Bogenstrichen, die auf Franz Clement, den Uraufführungsinterpreten und die Wiener Aufführungstradition zu Beethovens Zeit zurückgehen. Eine Fundgrube für heutige Interpreten, ein Füllhorn mit Anregungen zu eigener Gestaltung, die es so noch nicht gegeben hat.

2016-2020: Die Symphonien 3 bis 9: konsequent doppelt genäht hält besser

Le Concert Olympique – unter der Leitung von Jan Caeyers –, das Orchester der zyklischen Aufführung der Beethoven-Symphonien nach der neuen Beethoven-Gesamtausgabe (2020) | Foto: © Peter Adamik

Zug um Zug mit dem Erscheinen der Gesamtausgabenbände bei Henle legt Breitkopf & Härtel seit 2016 durch praktische Ausgaben nach und sorgt damit für die doppelte Naht, die bekanntlich besser hält als eine einfache. Im Beethoven-Jahr 2020 wird die Entscheidung, aller bereits existenten Ausgaben zum Trotz den Notentext der Gesamtausgabe den Dirigenten und Orchestern auch praktisch zugänglich zu machen, in vollem Umfang umgesetzt. So kündigt die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern ihre Konzertserie mit der 9. Symphonie im Mai 2020 an und verweist dabei auf unsere Neuausgabe. Und das belgische Orchester „Le Concert Olympique“ unter der Leitung von Jan Caeyers wird 2020 alle Symphonien auf der Basis des Gesamtausgabenmaterials aufführen und auch einspielen.

 

Was ist neu an der Neuausgabe der Neunten?

Im Jubiläumsjahr 2020 ist das Werk nun auch als Edition nach der neuen Beethoven-Gesamtausgabe verfügbar. Neue Erkenntnisse und Quellenbewertungen zeigen sich unter anderem bei der Kontrafagottstimme und der Unterlegung des Singtextes im Finale.

Singtextunterlegung

„bey der partitur bitte ich mir aus, daß es geschrieben wird, wie es steht, was die worte anbelangt“,

so Beethovens eindeutige Anweisung an einen Kopisten. Seine Trennungsregel nach „gedehnten“ Vokalen wird in der Edition erstmals beachtet (hier: „Ste – rnen“, „Mu – ß“). Außerdem sichtbar: die Wiedergabe der originalen Gedankenstriche vor oder parallel zu Pausen (nach „Brüder“) und Orthographie („Sternen Zelt“) sowie Beethovens Großschreibung der Versanfänge in Schillers Gedicht („Muß“).

Kontrafagottstimme

Als Hauptquelle der Edition diente die Stimme der Originalausgabe (August 1826), die unter Mitwirkung Beethovens entstand und mit hoher Wahrscheinlichkeit die definitive Fassung wiedergibt. Diese enthält zahlreiche Abweichungen zu früheren Quellen (z. B. Rhythmik, Oktavlage). Der Ausschnitt zeigt den Beginn des Abschnitts Takt 237–312, in dem das Kontrafagott in früheren Quellen ganz pausierte.

Ludwig van Beethoven, 9. Symphonie

 

Eine Übersicht der Orchesterwerke Ludwig van Beethovens bei Breitkopf & Härtel finden Sie hier:

Ludwig van Beethoven – Werke für und mit Orchester im „Breitkopf Urtext“

Anm.: Der Beitrag wurde erstmals im Magazin uptodate (Ausgabe 3-2019) veröffentlicht.
Frank Reinisch

Frank Reinisch

Geb. 1955, Studium der Musikwissenschaft, Germanistik und Theaterwissenschaft an der Universität zu Köln, 1981 Promotion in Köln über „Das französische Oratorium von 1840 bis 1870“. Seit 1983 Musikredakteur im Verlag Breitkopf & Härtel, seit 2014 auch Lektor für Neue Musik.