Ravels »Daphnis et Chloé« – Chor ohne Worte

Ravel "Daphnis et Chloé" historische Köstume

Ein wesentliches Merkmal der Partitur von Daphnis und Chloé ist die Einbeziehung eines Chores, der textlos auf dem Vokal A und teilweise mit geschlossenem Mund singt und vollkommen in das symphonische Geschehen integriert ist. Im Aufgehen des Chortons in der Einheit des Bildes vollendet sich die Klangdramaturgie des Balletts. Eine „kontinuierliche Orgel aus Stimmen“, so sei der Eindruck gewesen, den man mit Daphnis in Verbindung gebracht hat.

Ausschnitt Comoedia 18. Juni 1914

Dass diese Kompositionstechnik Bestandteil des musikalischen Gesamtkonzepts ist, geht aus einem Zwischenfall hervor, der sich zwischen Diaghilew und Ravel ereignete. Diaghilew hatte bei der Premiere im Théâtre du Châtelet den Eindruck, die Chorpartie sei „nicht nur unnötig, sondern schädlich“. Aus Rücksicht auf praktische und finanzielle Gründe erklärte sich Ravel bereit, ein „Behelfsarrangement“ ohne Chor zu erstellen, „um die Aufführung an weniger wichtigen Häusern zu erleichtern“. Als Diaghilew jedoch im Juni 1914 eine Aufführung von Daphnis et Chloé ohne Chor im Londoner Royal Theater in der Drury Lane plant, erzürnt sich der Komponist – „vermutlich betrachtet Herr Diaghilew London als einen jener ‚Nebenschauplätze‘“ – und veröffentlicht in den Londoner Zeitungen einen Protestbrief. Ravels Reaktion mag auf den ersten Blick überraschen, da das Ballett schon im April 1914 in Monte-Carlo ohne Chor vorgestellt wurde, was den Komponisten nicht weiter verwunderte. Es zeigt aber, dass der Chor in Daphnis in den Augen Ravels kein bloßes Mittel zur Erzielung einer besonderen Couleur ist, sondern darüber hinaus als Element der Orchestration maßgeblich den Ideenkontext des Werkes bestimmt.

Beispielseite aus Partitur PB 5650

Zunächst hinter den Kulissen, rückt der Chor langsam näher auf die Bühne. Bei Ziff. 4 achtet man auf Ravels Anweisung: „Der Chor darf nicht vorherrschen. Er bleibt im Hintergrund, außer am Ende des Tanzes (mouvt du début) [Tempo des Anfangs]: in diesem Moment wird er mit den Tänzern zum Vordergrund der Bühne kommen.“  Bei einer konzertanten Aufführung steht der Chor zwangsläufig hinter dem Orchester, wie bei einem Oratorium. Ideal wäre die Lösung, den Chor mitten im Orchester zu verteilen, wie es bei der Uraufführung der Nocturnes von Debussy geschah; die Größe des Chores lässt dies aber nicht zu. In jedem Fall ist es fatal, wenn der Chor links oder rechts aus einer Loge singt. Was man braucht, ist ein richtiger Mischklang, damit die vokale Drapierung in richtigem Verhältnis zum Orchester steht.

Die Geburt des Chores ohne Worte verdankt man der Romantik. Man denke nur an den Chor der unsichtbaren Geister (U–hu–i) aus dem Freischütz (1821) und das Heulen des Sturmes in Rigoletto (1851), wo Menschenstimmen als Instrumente benutzt werden. An der Schwelle des 20. Jahrhunderts entstehen mehrere Werke, die sich eines wortlosen Chores bedienen und zweifellos Ravel beeinflusst haben. In Fervaal von Vincent d’Indy (1897) werden auf diese Weise mystische Stimmen hörbar. Anders im dritten Satz der Nocturnes (1901), wo eine gewisse symbolische Annäherung an die Natur angestrebt wird, und zwar aufgrund einer Musik, die „im Bereich des Unwägbaren“ schwebt (Paul Dukas). Am Schluss des ersten Aktes von Pelléas und Mélisande (1902) hört man in dem Moment einen Chor in weiter Ferne ppp und mit geschlossenem Mund singen, in dem Mélisande am Abend nach ihrer Ankunft das Schiff absegeln sieht, das sie zum Schloss d’Allemonde gebracht hat.

Die Geburt des Chores ohne Worte verdankt man der Romantik.

In Debussys Schaffen finden sich schon früher textlose Chöre, die er als Rompreisträger komponiert hatte. Zu nennen wären noch La Tragédie de Salomé (1907) von Florent Schmitt, wo derartige Effekte mit dem Meer in Verbindung stehen, und Prometheus von Alexander Scriabin (1911), eine Partitur, die phonetische Anweisungen über die Art der Ausführung enthält. Keine Anstrengung war dem Komponisten zu groß, um die Wirkung zu erreichen, nach der er suchte, ob es sich nun um den Vokal E, A oder O handelte. Nicht unerwähnt bleiben, sollte das Ballett Narcisse et Echo von Nikolai Tcherepnin, das am 29. April 1911 in Monte-Carlo im Rahmen der Ballets russes uraufgeführt wurde und zahlreiche Stellen enthält, die einem Chor ohne Worte vorbehalten sind. Sicherlich hat Ravel diese beiden letzten Werke zur Kenntnis genommen, allerdings konnten sie seine Arbeit an Daphnis nicht mehr direkt beeinflussen.

Beispielseite aus Klavierauszug EB 9422

Neben der genialen Eingebung, die alle diese Werke auszeichnet, lebt in ihnen die Kunst des Unaussprechlichen, wo das Wort ohnmächtig verhaucht. Das Aufgeben des Wortes deutet auf eine geheimnisvolle Situation. Die Absicht, den Hörer in eine Unbestimmtheit der Sinneswahrnehmung zu drängen, ist bei Daphnis so evident wie im Falle der Nocturnes von Debussy. Dass Ravel aus Rücksicht auf die begrenzten Möglichkeiten anderer Theater im Anhang der 1913 gedruckten Partitur die Substitution des Chores a cappella durch einen Bläsersatz als Alternative angeboten hat, sollte uns nicht davon abbringen, das Werk in seiner originalen Gestalt zu spielen.

Jean-François Monnard

Jean-François Monnard

Jean-François Monnard geb. 1941, musikalische Ausbildung und Jurastudium in seiner Geburtsstadt Lausanne. Dirigieren bei Heinz Dressel und Theorie bei Krzysztof Penderecki an der Folkwang Hochschule in Essen (1968 Künstlerische Reifeprüfung). Monnards Theaterweg führte ihn von Kaiserslautern über Graz, Trier, Aachen, Wuppertal nach Osnabrück wo er als GMD wirkte. Zahlreiche Gasteinladungen auf dem Opernsektor und ausgedehnte Konzerttätigkeit. 1998 Wechsel an die Deutsche Oper Berlin, zunächst als Künstlerischer Betriebsdirektor, dann als Operndirektor.
2007 Rückkehr in die Schweiz, wo neue Aufgaben auf ihn warten: Stellv. Direktor des Festivals „Septembre Musical Montreux-Vevey“, Leiter des Bereichs Planning und Casting an der Genfer Oper und Musikalischer Berater beim Orchestre de la Suisse Romande. Seit 2013 zunehmend musikwissenschaftliche Tätigkeit, insbesondere als Herausgeber einer kritischen Ausgabe Ravels Orchesterwerke für den Verlag Breitkopf & Härtel (sechs Bände bisher erschienen: La Valse, Bolero, Rapsodie espagnole, Valses nobles et sentimentales, Bilder einer Ausstellung und Tombeau de Couperin) sowie als Chefredakteur der „Cahiers Ravel“, einer Veröffentlichung der Stiftung Maurice Ravel in Paris.