Monnards Konzertprogramme – Tiefen und Untiefen im Inneren der Seele

Wie ein Spiegelbild der Seele ist das Meer: mal stürmisch brausend, mal ruhig und glatt, mal aufgewühlt oder sanft rollend, eigentlich unfassbar und so unendlich tief. Ein Teil der Natur, der sicherlich in vielen Komponisten eine Sehnsucht weckt.

Seebilder I

Ernest Bloch | Poems of the Sea
Ernest Chausson | Poème de l’amour et de la mer op. 19


Toru Takemitsu | Quotation of Dream – Say sea, take me! – für zwei Klaviere und Orchester
Claude Debussy | La Mer, trois esquisses symphoniques

Der japanische Komponist Takemitsu (1930–1996) widmete sich gegen Ende seines Lebens der Suche nach einem „tonalen Meer“ in abendländischer Tradition. Quotation of Dream (Zitat eines Traumes) entstand 1991 für das Japan-Festival am Barbican Center in London und ist den Solisten der Uraufführung, Peter Serkin und Paul Crossley, gewidmet. In den zwölf Episoden des Stücks werden nicht nur eigene Werke, sondern es wird auch immer wieder wörtlich aus La Mer zitiert. „Say sea, take me!“ ist ein Zitat aus Emily Dickinsons Liebesgedicht „My rivers run to thee“, das bei Takamitsu die Idee des Meeres und der Einheit mit der Natur verbindet.

Nahezu illustrative Klangbilder erzeugt Bloch in seinen Poems of the sea, die ihm während eines Sommeraufenthaltes in Percé eingefallen sind, einer Region, die zu den attraktivsten Quebecs (Kanada) gehört.

Das Poème de l’amour et de la mer beschrieb Debussy als „unaufhörliches Wellenspiel“. Es beruht auf zwei melancholischen Gedichten des Chausson-Freundes Maurice Bouchor und wirkt wie eine dramatische Szene.“Gleissende Sonne lässt das Meer erglühen“ heisst es im ersten Gedicht, „La fleur des eaux“ (die Blume des Wassers). Aufblühen einer Liebe, die vom zarten Duft der Flieder erfüllt ist. Bald aber schlägt die Stunde des Abschieds und die „vertrockneten Blätter“ betrauern den Tod der Liebe. 1905 erschien die Partitur von La Mer mit Hokusais farbigem Holzschnitt „Die Höhlung in der Welle von Kanagawa“ als Titelbild, dessen Reproduktion Debussys Arbeitszimmer zierte.

Seebilder II

Benjamin Britten | Four Sea Interludes aus der Oper Peter Grimes op. 33a
Ernest Chausson | Poème de l’amour et de la mer op. 19


Edward Elgar – Sea Pictures für Alt und Orchester op. 37
Claude DebussyLa Mer, trois esquisses symphoniques

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C. Debussy, La Mer (Erstausgabe 1905 bei Durand)

Von einem „Wunschtraum naturhafter Unmittelbarkeit“ ist oft die Rede, wenn man die Musik von Debussy und Britten vergleicht. Das Meer hat sie beide zeitlebens fasziniert – im sanften Spiel der Wellen und in der tödlichen Gewalt der Stürme. Debussy näherte sich dem Meer wie ein impressionistischer Maler, fing Lichtstimmungen mit feinsten Schattierungen seiner orchestralen Farbpalette ein. Sein Werk kann als persönliche Liebeserklärung an das Meer verstanden werden.“Ohne Zweifel wollte Debussy – ähnlich dem Maler, der eine Landschaft zu einer bestimmten Tagesstunde, in einer bestimmten Beleuchtung festhält – in jedem seiner Bilder lediglich eine einzige Bewegung, eine einzige Impression zum Ausdruck bringen“ (Louis Laloy im Mercure musical vom 1. November 1905). Zweifellos erinnert der dritte Satz von La Mer an einen gewaltigen Sturm. Jedoch wollte Debussy die Konnotation nicht allzu direkt verstanden wissen. Ihm ging es mehr um Atmosphärisches, um die psychologische Stimmung, um Erinnerungen vor allem. „Meiner Ansicht gilt das mehr als eine Wirklichkeit, deren Zauber die Phantasie gewöhnlich zu stark belastet“ schrieb er an André Messager, der die Uraufführung seines Pelléas geleitet hatte.

Für Britten war die äußere Natur vor allem ein Spiegel der inneren Empfindung: Die dunklen Gewalten des Meeres sind in Peter Grimes zugleich auch ein Bild für die Abgründe der Seele.

Seebilder III

Frank Bridge | The Sea Suite für Orchester
Edward Elgar | Sea Pictures für Alt und Orchester op. 37


Ralph Vaughan Williams | Sinfonie Nr. 1 für Sopran- und Baritonsolo, gemischten Chor, Orgel und Orchester „A Sea Symphony“

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R. Vaughan Williams, „A Sea Symphony“

England stand über ein Jahrhundert lang unter dem Verdacht „keine Musik“ zu haben. Britische Musik, so George Bernhard Shaw, verfüge über keinerlei eigenständige Substanz. Auch Heinrich Heine hatte den Engländern den Sinn für Musik abgesprochen. Besonders aufschlussreich ist dabei Brittens Abwendung von Brahms und allem Spätromantischen. Jedenfalls wurde das Meer zum beherrschenden Thema in der britischen Musik. Nichts Ungewöhnliches bei einem Land, das von der See umschlossen ist. Vaughan Williams Sea Symphony drängt sich hier ebenso schnell auf wie Elgars Sea Pictures oder Frank Bridge The Sea und natürlich Brittens Peter Grimes. Vaughan Williams Sea Symphony basiert auf Gedichten von Walt Whitman, die ebenfalls zwölf Jahre später als Quelle der Inspiration für Blochs Poems of the sea dienten. Sechs Jahre lang arbeitete der Komponist an dieser Sinfonie, bevor er am 12. Oktober 1910, seinem 38. Geburtstag, beim Leeds Festival den Auftakt zum monumentalen Eingangschor gab. Noch heute überrollt dieser Beginn den Hörer wie eine Flutwelle – aber wenn sich die Wogen geglättet haben, kann man den schillernden maritimen Liederreigen genießen.

Sein sinfonisches Tongedicht über das Meer beschloss Bridge im Sommer 1911 ganz in der Nähe seines Geburtsortes Brighton in der Küstenstadt Eastbourne. Obwohl die einzelnen Sätze mit Titeln versehen sind – Seescape / Seafoam / Moonlight / Storm – wird Bridge ganz selten lautmalerisch; seine Absicht ist vielmehr die Schilderung von Eindrücken.

In den Dichtungen, die Elgar wählt, wird auch das Meer zum Spiegel der menschlichen Seele. Kein Rauschen von Wind und Wellen, sondern das Gefühl der Unbegrenztheit, das man vor dem Meer empfindet.

 

Titelbild: © John Webb (cc-by-sa/2.0)
Jean-François Monnard

Jean-François Monnard

Jean-François Monnard geb. 1941, musikalische Ausbildung und Jurastudium in seiner Geburtsstadt Lausanne. Dirigieren bei Heinz Dressel und Theorie bei Krzysztof Penderecki an der Folkwang Hochschule in Essen (1968 Künstlerische Reifeprüfung). Monnards Theaterweg führte ihn von Kaiserslautern über Graz, Trier, Aachen, Wuppertal nach Osnabrück wo er als GMD wirkte. Zahlreiche Gasteinladungen auf dem Opernsektor und ausgedehnte Konzerttätigkeit. 1998 Wechsel an die Deutsche Oper Berlin, zunächst als Künstlerischer Betriebsdirektor, dann als Operndirektor.
2007 Rückkehr in die Schweiz, wo neue Aufgaben auf ihn warten: Stellv. Direktor des Festivals „Septembre Musical Montreux-Vevey“, Leiter des Bereichs Planning und Casting an der Genfer Oper und Musikalischer Berater beim Orchestre de la Suisse Romande. Seit 2013 zunehmend musikwissenschaftliche Tätigkeit, insbesondere als Herausgeber einer kritischen Ausgabe Ravels Orchesterwerke für den Verlag Breitkopf & Härtel (sechs Bände bisher erschienen: La Valse, Bolero, Rapsodie espagnole, Valses nobles et sentimentales, Bilder einer Ausstellung und Tombeau de Couperin) sowie als Chefredakteur der „Cahiers Ravel“, einer Veröffentlichung der Stiftung Maurice Ravel in Paris.