Women of Our World – Kultureller Austausch durch Musik

Women of Our World

Anlässlich der Veröffentlichung von Women of Our World, dem interkulturellen Chorbuch für Frauenstimmen, sprach die Herausgeberin Hayat Chaoui mit uns sowohl über die Auswahl der Stücke und den Entstehungsprozess des Buches als auch ihre eigene Laufbahn und interkulturelle musikalische Arbeit.

Entstanden ist daraus eine Ausgabe, die so vielfältig ist wie die Sängerinnen ihres Chores WoW – Women of Wuppertal, diese treten auch mit persönlichen Beiträgen und Porträts darin auf. Mit 40 Stücken in 25 verschiedenen Sprachen aus mehr als 30 Ländern setzt das Chorbuch neue Maßstäbe an Interkulturalität im Bereich der interkulturellen Chormusik. Gleiches gilt auch für das Chorprojekt von Hayat Chaoui, das 2018 für den Nationalen Integrationspreis der Bundeskanzlerin nominiert war.

 

Sebastian Posse-Schöning (SP): Frau Chaoui, seit wann sind Sie in der interkulturellen Chorarbeit tätig? Was waren Ihre ersten Projekte in diesem Bereich?

Hayat Chaoui (HC): Aufgrund meiner eigenen Biographie bin ich schon lange an diesem Thema interessiert und aktiv. Seit 2007 singe ich selbst in der interkulturellen Jazz-Formation Ufermann, wo ich meine biographischen Wurzeln mit einbringen kann. 2014 habe ich meine Tätigkeit als Leiterin des Fachbereiches Gesang an der Bergischen Musikschule in Wuppertal begonnen, wo es mir ein großes Anliegen ist, den diversen Querschnitt der Stadtgesellschaft auch in der Arbeit und Klientel der Musikschule widerzuspiegeln. Daraus entwickelte sich das erste Angebot namens „KIWI – Kinder- und Wiegenlieder aus aller Welt“. An verschiedenen Standorten der Stadt können Eltern mit und ohne Migrationshintergrund kostenfrei wöchentlich Kinder- und Wiegenlieder in den eigenen Familien- und Herkunftssprachen erlernen, erinnern und miteinander üben, um sie u.a. auch aus sprachfördernden Aspekten mit ihren Kindern zu Hause zu singen. Inzwischen sind ein Liederbuch und eine CD dazu erschienen.

 

SP: Wie kam es zu der Gründung des Chores WoW – Women of Wuppertal?

HC: Ursprünglich entstand die Idee im gemeinnützigen Verein alpha e.V., der für das Jobcenter Maßnahmen durchführt, um Menschen (wieder) in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Der Chor WoW – Women of Wuppertal war Teil einer solchen Maßnahme, die sich an arbeitssuchende Mütter mit Migrationshintergrund richtete, und sollte die Frauen u.a. durch gezielte Körper- und Stimmarbeit auf Bewerbungsgespräche vorbereiten.

 

SP: Wann entwickelte sich der Chor zu einem eigenständigen Ensemble jenseits der Maßnahme zur Integrationsförderung?

HC: Bereits während meines Studiums hatte ich den Wunsch, einen reinen Frauenchor zu gründen, um vor allem Damen verschiedener Herkunftskulturen einen geschützten Raum des gegenseitigen Austausches zu bieten. Als der Verein alpha e.V. eine Chorleitung suchte, war ich Feuer und Flamme und sagte sofort zu. Jedoch blieben die Damen höchstens sechs Monate, so dass im Chor eine hohe Fluktuation entstand, die einer sich weiter entwickelnden musikalischen Arbeit im Wege stand. Gemeinsam mit der Bergischen Musikschule entschieden wir, eine gleichnamige zweite Gruppe im Nachmittagsbereich einzurichten und sie der Gesamtbevölkerung zu öffnen. Zudem haben die Mütter die Möglichkeit, ihre Kinder mitzubringen, die zur gleichen Zeit eine kostenfreie musikalische Grundausbildung erhalten. Inzwischen singen knapp 50 Frauen aus Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika mit.

 

SP: Welche Hemmschwellen gab und gibt es für die Sängerinnen?

HC: Viele Frauen singen zum ersten Mal in einer Gruppe, weil sie sich zuvor nicht getraut haben. Teilweise gibt es sprachliche Barrieren, die aber schnell abgebaut werden. Schwieriger können interkulturelle Missverständnisse werden, wenn Symbole verschieden gedeutet werden oder unbewusst Vorurteile gegenüber bestimmten Volks- oder Sprachgruppen auftauchen. Aber auch scheinbar banale Umstände wie die Kinderbetreuung oder die logistische Organisation innerhalb der Familie können Hemmschwellen für den Besuch des Chores darstellen.

 

SP: Warum gelingt Integration im Sinne einer gegenseitigen Anerkennung und Wertschätzung der verschiedenen nationalen und kulturellen Identitäten dennoch so gut über das gemeinsame Singen?

HC: Da die menschliche Stimme allen gemeinsam und musikalisch gesehen das niederschwelligste Instrument ist, das allzeit zur Verfügung steht, stellt das gemeinsame Singen eine ideale Voraussetzung für eine gegenseitige Anerkennung dar. Beim gemeinsamen Singen steht vor allem der Moment des gemeinsamen Musizierens im Vordergrund: Zusammen erschafft man eine Gegenwart und definiert sich nicht (nur) über die Vergangenheit. Für einen Augenblick zumindest entsteht das Gefühl der Zusammengehörigkeit, eine Art musikalisches Zuhause. Indem außerdem die Lieder der Herkunftssprachen gesungen werden, wird automatisch die Wertschätzung dessen ausgedrückt, was Menschen als Erbe und als Identität mitbringen.

Für einen Augenblick zumindest entsteht das Gefühl der Zusammengehörigkeit, eine Art musikalisches Zuhause.

SP: Die Nominierung für den Nationalen Integrationspreis der Bundeskanzlerin 2018 durch den Deutschen Kulturrat war eine besondere Auszeichnung für dieses Projekt und Ihre persönliche Arbeit. Haben Sie noch weitere positive Rückmeldungen erhalten?

HC: In der Tat erhalten wir viele positive Rückmeldungen: 2017 erhielt der Chor den Preis des Sparda-Musiknetzwerkes für seine zukunftsorientierte Bildungsarbeit. Außerdem haben wir auch den Preis der Grünen Ratsfraktion Wuppertal erhalten. Die Nominierung für den Nationalen Integrationspreis der Bundeskanzlerin 2018 durch den Deutschen Kulturrat mit der Einladung ins Bundeskanzleramt war sicherlich der bisherige Höhepunkt.

 

Women of Our World | Interkulturelles Chorbuch

Women of Our World | Interkulturelles Chorbuch für Frauenstimmen ChB 5363

SP: Wann kamen Sie auf den Gedanken, aus dem vielfältigen Repertoire ein Chorbuch zu erstellen und dieses zu veröffentlichen? Nach welchen Kriterien ist die Auswahl der Stücke erfolgt?

HC: Die Idee, ein Chorbuch der bis dato gesammelten Lieder herauszugeben, bestand schon sehr bald. Doch ich wollte einen geeigneten Verlag dafür finden. Durch meine Beschäftigung mit interkultureller Musikpädagogik werde ich inzwischen bundesweit zu Vorträgen und Workshops eingeladen, so dass ich auf dem BDG-Kongress [Bund Deutscher Gesangspädagogen, Anm. d. Red.] in Freiburg durch den Cheflektor von Breitkopf & Härtel, Friedhelm Pramschüfer, dazu angesprochen wurde. Ich war darüber sehr glücklich, da die Kontaktaufnahme genau zur richtigen Zeit kam.
Die Lieder sind alle so ausgewählt, dass man sie relativ schnell mit einer Laiengruppe einstudieren kann. Dazu eignen sich beispielsweise Strophenlieder und/oder Refrains. Es geht darum, auch hierbei musikalische Hürden abzubauen und möglichst nach einer Probe mit einem Ohrwurm nach Hause zu gehen.

Die Lieder sind alle so ausgewählt, dass man sie relativ schnell mit einer Laiengruppe einstudieren kann.

SP: Die Arrangements des Buches stammen von dem Musikwissenschaftler, Kirchenmusiker und Musiktheorie-Dozenten Prof. Dr. Jürgen Blume. Wie kam es zu der Zusammenarbeit und was war Ihnen bei den Arrangements wichtig?

HC: Jürgen Blume kenne ich schon sehr lange, weil er mein Chorleiter im Jugendchor des hessischen Rundfunks war. Als Komponist hat er auch schon damals viele Stücke für uns arrangiert, die einfach stimmlich gut lagen und angenehm zu singen waren. Deshalb fiel er mir auch für die Arrangements dieser interkulturellen Lieder ein. Ich bin ihm zutiefst dankbar für seine Mithilfe.

 

SP: Wie herausfordernd war es, die Vielzahl an verschiedenen Sprachen und musikalischen Stile unter einen Hut zu bekommen? Hatten Sie Hilfe bei der Erstellung der unterlegten Transkriptionen, Aussprachehilfen und Übersetzungen?

HC: Die Sprachen und Stile waren sicherlich die größte Herausforderung. Ich musste viel recherchieren und hatte teilweise die sprachlichen Expertisen aus meinem Chor. Teilweise konnte ich mir durch meine Mehrsprachigkeit selbst helfen, aber es gab wirklich viele Menschen um mich herum, die mir bei den Übersetzungen und Deutungen der Symbole halfen oder ganz einfach die Originalschrift besorgten. Eine Dame hatte gar Kontakt zu einer Universität in Indien, wo wir die Bestätigung eines Textes erhielten.

Women of Our World | Interkulturelles Chorbuch | Beispielseiten

Women of Our World | Interkulturelles Chorbuch für Frauenstimmen | Beispielseiten

SP:  In der Konzeption des Buches war Ihnen von Anfang an wichtig, auch Ihre Sängerinnen in kurzen Beiträgen im Buch persönlich zu Wort kommen zu lassen. Die Porträts von Bettina Osswald vermitteln – auch durch die traditionellen Gewänder der Frauen – einen direkten Zugang zu den verschiedenen Identitäten. Wie sind Sie auf die Idee zu diesen Fotos und den begleitenden Beiträgen gekommen?

HC: Mir war es wichtig, ein lebendiges, mehrdimensionales Buch herauszugeben. Der Grund dieser Lieder sind menschliche Geschichten und genau diese Menschen kommen in dem Chorbuch zu Wort.

 

SP: Seit 2017 sind Sie im Präsidium des Landesmusikrates Nordrhein-Westfalen als Beisitzerin zu interkulturellen Fragen und seit 2019 zusätzlich als Bildungsreferentin beim Chorverband dieses Bundeslands tätig. Wie erleben Sie die in diesen Positionen die Entwicklung des interkulturellen Chorsingens in Deutschland und speziell in Nordrhein-Westfalen?

HC: Im Bereich des interkulturellen Singens besteht vorsichtig gesagt noch viel Luft nach oben. Nordrhein-Westfalen spielt dabei eine Vorreiterrolle. Allein der ChorVerband NRW, für den ich als Bildungsreferentin arbeite, hat einen eigenen interkulturellen Chor gegründet, der von einer russischstämmigen Chorleiterin und einem türkischstämmigen Musiker geleitet wird. Außerdem wurde beim letzten Landeschorwettbewerb die Kategorie der interkulturellen Chöre eingeführt, in Deutschland bisher einmalig. Nichtsdestotrotz braucht es noch viel mehr Offenheit und Akzeptanz innerhalb der hiesigen Chorszene für interkulturelle Formate, so wie auch die Community-Chöre sich für interkulturelle Begegnungen öffnen dürfen. Dazu zählen sicherlich auch Formate, die sich außerhalb der tradierten Organisation innerhalb eines Vereins bewegen.

Im Bereich des interkulturellen Singens besteht vorsichtig gesagt noch viel Luft nach oben.

SP: Sie waren nicht immer in diesem Bereich tätig, sondern erhielten zunächst eine klassische Gesangsausbildung und waren einige Jahre im Oratorien- und Jazz-Fach unterwegs. Bleibt Ihnen dafür aktuell noch Zeit?

HC: Mit der Jazz-Formation Ufermann bin ich weiterhin sehr umtriebig. Schließlich arbeiten wir auch konzeptionell. Was den klassischen Gesang betrifft, so unterrichte ich diesen vor allem und bereite gerade wieder Schülerinnen und Schüler für den Wettbewerb „Jugend musiziert“ vor.

 

SP: Zum Schluss noch ein Wort zur Pandemie, die die Chöre weltweit besonders hart getroffen hat. Konnten Sie bereits wieder mit Ihrem Chor proben oder Konzerte planen? Wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung der interkulturellen Chorszene, vor allem niedrigschwelliger Angebote, vor diesem Hintergrund ein?

HC: In der Tat probe ich seit dem Sommer wieder mit dem Frauenchor WoW und plane bereits im Herbst Konzerte. Ich fand es zu Beginn der Pandemie unsäglich, das Singen mit dem Prädikat „gefährlich“ oder gar „tödlich“ zu behaften. Im Gegenteil: Singen macht lebendig! Es ist gesundheitsfördernd und stärkt das Immunsystem. Vom sozialen Aspekt ganz zu schweigen. Das Singen in den allgemeinbildenden Schulen zu verbieten, kann sicherlich noch elementare Folgen für die musikalische Bildung haben. Es passiert nicht selten, dass inzwischen Kinder ihre Angst vor dem Singen äußern.

Was meinen Chor betrifft, so war die Gemeinschaft bereits vor der Pandemie dermaßen stark, dass die Gruppe auch währenddessen zusammenhielt. Wöchentliche virtuelle Proben wurden sehr gut besucht. Und wenn es die Bedingungen erlaubten, trafen wir uns in Gärten oder Höfen zum gemeinsamen Singen. Das haben viele Chöre leider nicht geschafft. Umso glücklichere Rückmeldungen habe ich vor allem von älteren Menschen erhalten, die sich für die wöchentlichen Online-Sing-Formate, die ich für den ChorVerband NRW entwickelt habe, angemeldet hatten. Für manche war das gar der einzige feste Termin und damit Fixpunkt der Woche, der mit Vorfreude erwartet wurde. Fazit: Singen tötet nicht, singen belebt!

Was die Entwicklung der Chorszene betrifft, speziell auch der interkulturellen, so glaube ich, dass noch ein spannender Weg vor uns liegt. Das Singen an sich ist wieder en Vogue, aber die Formate werden verschiedenartiger, weil auch die Gesellschaft diverser als zuvor ist. Ich jedenfalls freue mich, diesen Weg mit einem kleinen Beitrag mitgestalten zu dürfen.


Hayat Chaoui

Hayat Chaoui | © Bettina Osswald

Hayat Chaoui unterrichtete an der HfMT Köln und ist Fachbetreuerin Gesang der Bergischen Musikschule mit dem Schwerpunkt interkulturelle Musikpädagogik. Sie initiierte u. a. das Singangebot KIWI – Kinder- und Wiegenlieder aus aller Welt und leitet den internationalen Frauenchor WoW – Women of Wuppertal. Seit 2017 gehört sie als Beisitzerin zu interkulturellen Fragen dem Präsidium des Landesmusikrates Nordrhein-Westfalen an. 2019 hat sie zusätzlich eine Tätigkeit als Bildungsreferentin beim ChorVerband Nordrhein-Westfalen aufgenommen. Bundesweit ist sie regelmäßig als Dozentin für interkulturelle Musikpädagogik tätig.

 

 

 

 

 

Prospekt zur Ausgabe (DE-EN)

Hayat Chaoui: Women of Our World | Interkulturelles Liederbuch für Frauenstimmen | Zusammenkommen, zusammen singen, zusammenwachsen – kultureller Austausch durch Musik

Titelbild: © Bettina Osswald
Sebastian Posse-Schöning

Sebastian Posse-Schöning

Geboren 1990 in Sindelfingen, aufgewachsen in Oldenburg. Studium der Musikwissenschaft und Anglistik an der Universität Freiburg und der Universität Leipzig. Seit 2015 zunächst als Praktikant und Volontär, anschließend als Lektor für Chormusik bei Breitkopf & Härtel tätig.