Neue Wege – Gustav Mahlers 4. Symphonie
Es ist der 25. November 1901 und kein anderer als Gustav Mahler persönlich steht im „Großen Kaim-Saal“ in München am Pult: zum ersten Mal kommt seine 4. Symphonie zu Gehör. Mahler selbst hatte den Wunsch, dass die Uraufführung in München mit dem hier ansässigen Kaim-Orchester, den heutigen Münchner Philharmonikern, stattfinden sollte. Er hatte bereits mehrfach in München gastiert und mit dem Orchester, das seinen hohen Ansprüchen gerecht werden konnte, stets die besten Erfahrungen gemacht.
[The English translation of the article can be found here.]
Erst ein Jahr zuvor hatte er mit der Münchner Erstaufführung seiner 2. Symphonie mit diesem Orchester nicht nur einen musikalischen Erfolg gefeiert, sondern auch die gewünschte Anerkennung als Komponist erhalten. Beste Voraussetzungen also für einen weiteren Erfolg! So ganz ging Mahlers Plan jedoch leider nicht auf. Noch nicht …
Mit seiner 4. Symphonie stellte Gustav Mahler das Publikum der Münchner Uraufführung ebenso vor neue Herausforderungen wie die Orchestermusiker. Durch seine ersten drei Symphonien hatte er gewisse Erwartungen geweckt, war doch bisher jede neue Symphonie noch größer, noch epischer als die vorangegangene. Was sollte nun als nächstes kommen? Wer weiß, vielleicht hat auch Mahler sich diese Frage gestellt, vielleicht auch nicht; zumindest war ihm durchaus bewusst, dass das Werk „so grundverschieden von meinen anderen Symphonien“ ist. Und zur Überraschung seiner Zuhörerschaft präsentierte er nun ein viel kürzeres, schlankeres und einfacher anmutendes Werk. Doch steckt nicht gerade in den vermeintlich einfachen Dingen oft mehr Komplexität, als man zunächst annimmt?
Das musikalische Geschehen richtet sich einzig zum Finalsatz hin
Die vier Sätze der Symphonie sind eher nach dem traditionellen Schema angeordnet. Durch die Verwendung von Themen und Motiven des Finales in den ersten drei Sätzen sind alle vier Sätze der Symphonie untereinander verknüpft, und das musikalische Geschehen richtet sich einzig zum Finalsatz hin – eine Vorgehensweise, die in Mahlers Symphonien in dieser Ausprägung einmalig ist. Verglichen mit den ersten Symphonien Mahlers zeigt die Vierte eine Reduktion der Aufführungsdauer, aber auch des Orchesterklangs. War dieser in den ersten Symphonien noch sehr kompakt, wirkt er hier transparenter und zwischenzeitlich beinahe kammermusikalisch. Auf den Einsatz von Posaunen und Tuba verzichtet Mahler sogar ganz.
Der erste Satz steht in traditioneller Sonatenform und „beginnt“ – so Mahler –, „als ob er nicht bis drei zählen könnte, dann aber geht es gleich ins große Einmaleins und zuletzt wird schwindelnd mit Millionen und aber Millionen gerechnet“. Es flackern musikalische Erinnerungen an Mozart, Haydn und Beethoven auf, und während die bereits bekannten Symphonien Mahlers sehr stark, kraftvoll und beunruhigend beginnen, wird hier mit kinderliedartigem Charakter ein Gefühl von Glück, Freude und Heiterkeit vermittelt.
Das Scherzo des zweiten Satzes ist laut Mahler „mystisch, verworren und unheimlich, daß euch dabei die Haare zu Berge stehen werden […]“. Eine zentrale Rolle in diesem Totentanz – so der Untertitel im Programmzettel eines Konzerts unter Mahlers Dirigat – spielt der Teufel, verkörpert von der Solovioline. Einen Ganzton höher gestimmt, soll sie „schreiend und roh klingen, wie wenn der Tod aufspielt“. Dieser Effekt kam auf den damaligen mit Darmsaiten bespannten Instrumenten noch wesentlich stärker zur Geltung als bei den heute gebräuchlichen Stahlsaiten.
Im dritten Satz, der zwei Themen in verschiedenen Variationen verarbeitet, kehrt eine tiefe, geradezu meditative Ruhe ein. Der Kontrast zwischen den beiden Themen sowie die Steigerung der Variationen sind die vorherrschenden Ideen bei der Ausgestaltung des Satzes.
Bereits 1892 schrieb Mahler fünf Lieder nach Texten aus Des Knaben Wunderhorn, die er selbst als Humoresken bezeichnete. Darunter findet sich auch Das himmlische Leben als Vertonung des Gedichts Der Himmel hängt voll Geigen aus der Gedichtsammlung von Clemens Brentano und Achim von Arnim. Dieses Orchesterlied bildet die Grundlage des Finalsatzes und ist durch die Verknüpfung aller Sätze untereinander zugleich der Kern der Symphonie. Der vertonte Liedtext ist dabei prägend für den musikalischen Charakter und entspricht nicht dem gewaltigen Finale und den machtvollen Abschlüssen, wie sie sonst bei Mahler zu finden sind. Entgegen etwaiger Erwartungen, dass, analog zur letzten Textzeile, am Ende auch die Musik „für Freuden erwacht“, erwartet den Zuhörer hier das Gegenteil: Mahler lässt mit der Anmerkung „morendo“, ersterbend, die Musik ins Nichts oder – wenn man das Leben nach dem Tod als zugrunde liegendes Thema sieht – ins Licht entschwinden.
Wechselspiel zwischen Scherz und Ernst, Wirklichkeit und Phantasie
Zu Lebzeiten Mahlers wurde seine Symphonie mit dem Wechselspiel zwischen Scherz und Ernst, Wirklichkeit und Phantasie, mit dem „Als-Ob des Spiels“ kaum verstanden. Und doch dirigierte er das Werk bis zu seinen letzten New Yorker Konzerten 1911 noch weitere acht Mal.
Und heute? Heutzutage wird die 4. Symphonie häufig gespielt und ist eines der beliebtesten Werke Gustav Mahlers. Nach dem Auftakt der Reihe „Gustav Mahler – Die Symphonien“ mit der im Frühjahr 2019 veröffentlichten 1. Symphonie, ist nun auch die 4. Symphonie bei Breitkopf & Härtel erhältlich . Zuvor wurde die Ausgabe noch einem „Praxistest“ unterzogen: Im Eröffnungskonzert der 69. Konzertsaison spielten die Abilene Philharmonics (Texas, USA) unter der Leitung von David Itkin die Symphonie erstmalig aus der Neuausgabe von Breitkopf & Härtel.