Interview: Die Mahler-Edition von Breitkopf & Härtel
Zum 300-jährigen Verlagsjubiläum beginnt Breitkopf & Härtel mit der Publikation sämtlicher Symphonien Gustav Mahlers. Christian Rudolf Riedel – Musiker, Dirigent und Orchesterlektor – ist der Herausgeber dieser besonderen Neuausgabe. uptodate-Redakteurin Daniela Wolff sprach mit Christian Rudolf Riedel über das neueste Orchesterprojekt des Verlags.
[The English translation of the interview can be found here.]
Daniela Wolff: Pünktlich zum 300-jährigen Verlagsjubiläum 2019 beginnt Breitkopf & Härtel mit der Veröffentlichung sämtlicher Symphonien Gustav Mahlers. Ein großes und für den Verlag bedeutsames Projekt mit erheblichem Arbeitsaufwand. Alle Partituren sollen einen ausführlichen Revisionsbericht bekommen, dennoch ist der Verlag zurückhaltend mit dem Prädikat „Breitkopf Urtext“. Ich vermute, dass die Kategorie „Urtext“ bei Mahler kritisch hinterfragt werden muss. Ist das korrekt?
Christian Rudolf Riedel: Nun ja, „Urtext“ ist ein Begriff, der grundsätzlich hinterfragt gehört, bei jeder Edition, nicht nur bei Mahler. Das suggeriert doch die Erwartung, der letzte Wille der Komponisten, sofern davon überhaupt die Rede sein kann, ließe sich umstandslos in einem „Urtext“ festhalten. Leider pflegen Komponisten aber kein notariell hinterlegtes „Testament“ mit ihrem letzten Willen zu hinterlassen, und das Hinterlassene ist meist alles andere als eindeutig. Wir müssen uns also auf die Spurensuche begeben, was manchmal recht mühsam ist, gleichzeitig aber auch sehr spannend sein kann. Wie sich nun bei Mahler herausgestellt hat, sind die Spuren, die er uns als Komponist und Dirigent mit seinen unzähligen Revisionen hinterlassen hat, so vielfältig. Sie führen vor allem nicht zu einer in allen Details definitiven Fassung letzter Hand, die es rechtfertigen würde, von einem „Urtext“ zu sprechen. Den gibt es leider bei Mahler nicht, ja, eine solche Bezeichnung wäre hier sogar irreführend. Das müsste ich jetzt genauer erklären, aber dafür gibt es ja einen ausführlichen Revisionsbericht. Ich finde den Verzicht auf das „Urtext“-Label übrigens eine richtige, auch mutige Verlagsentscheidung und hoffe, dass das nicht zu einem Weniger, sondern zu einem Mehr an Vertrauen in die Edition führt.
Aber dafür gibt es ja einen ausführlichen Revisionsbericht
DW: Also eine Neuausgabe ohne das Prädikat „Urtext“. Aber was zeichnet die Edition dann aus? Was erwartet den Benutzer?
CRR: Auch ohne das „Urtext“-Label ist es doch eine textkritische Edition mit einem verlässlichen Notentext, und zwar auf der Grundlage der relevanten Quellen der zuletzt überlieferten Fassung. Selbstverständlich bietet sie darüber hinaus viele interessante Informationen zu Quellenkritik und Aufführungspraxis. Da gibt es in einigen Fällen Neuerkenntnisse zu Details, die so bisher in keiner anderen Ausgabe zu finden sind. Ich bin sehr froh und auch ein bisschen stolz, dass das gerade bei der Ersten Symphonie, der Symphonie mit der längsten und verworrensten Revisionsgeschichte, gelungen ist. Beispielsweise konnte ich für die Edition der „Blumine“ erstmalig die von Mahler revidierte Partiturabschrift heranziehen, die er für mindestens zwei Aufführungen benutzte. Die einzige Ausgabe, die es bisher gab – übrigens erst 1968 erschienen – basiert auf dem unrevidierten Autograph. Also auch hier nun endlich eine Edition der zuletzt überlieferten Fassung.
Urtext wäre sogar irreführend – Zur Mahler-Edition von Breitkopf & Härtel
DW: Die Neuausgabe entsteht, so ist in der Ankündigung zu lesen, „in Zusammenarbeit mit führenden Mahler-Orchestern“. Was genau verbirgt sich dahinter und welchen Einfluss hat diese Zusammenarbeit auf die vorliegende Edition?
CRR: Das hängt mit ihrer Zielstellung und der Zielgruppe zusammen. Anders als Gesamtausgaben, die für wissenschaftliche Zwecke den gesamten Prozess der Entstehung und Überlieferung zu dokumentieren suchen, verfolgt die Edition vor allem ein praktisches Anliegen und dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen im Hinblick auf die Dirigenten, die zu Recht einen verlässlichen Notentext und zumindest die wichtigsten zur Interpretation erforderlichen textkritischen und musikalisch-praktischen Informationen erwarten dürfen, zum anderen im Hinblick auf die Musiker, die auf Stimmen angewiesen sind, die ihren ganz speziellen Bedürfnissen und Notwendigkeiten gerecht werden. Deshalb stehe ich seit vielen Jahren in gutem Kontakt zu Musikwissenschaftlern, Dirigenten und Musikern, vor allem aber zu OrchesterbibliothekarInnen der MOLA [Major Orchestra Librarians‘ Association]. Es ist wirklich unglaublich, mit welcher Hingabe und Professionalität diese Menschen an dem gleichen Ziel arbeiten, das auch wir als Verlag verfolgen: nämlich bestmögliche Aufführungsmateriale zur Verfügung zu stellen. Daraus hat sich nun eine Zusammenarbeit an unserem Mahler-Projekt entwickelt, und ich bin sehr dankbar über viele wertvolle Anregungen und Rückmeldungen, die sich bisher daraus ergeben haben, und weiteren, die sich hoffentlich noch ergeben werden.
DW: In den vielen Jahren Ihrer Verlagstätigkeit waren Sie mehrfach als Herausgeber für Breitkopf & Härtel tätig. So sind die Urtext-Ausgaben von Dvořáks „Neuer Welt“-Symphonie, des Violinkonzerts und der Ouvertüren von Schumann oder der Beethoven-Ouvertüren Leonore Nr. 3 und Fidelio unter Ihrer Federführung erschienen. Darüber hinaus können Sie aus Ihrer Erfahrung als Orchesterlektor auch auf eine Vielzahl von Ausgaben aus allen Epochen – bis zurück zu Pergolesi – zurückblicken. Was ist aus Sicht des Lektors das Besondere und das Herausfordernde bei Mahler?
CRR: Wie schon angedeutet, fasziniert mich die ungeheure Vielfalt der von Mahler hinterlassenen Spuren. Seine Symphonien sind, was die Komplexität ihrer Entstehung und Überlieferung betrifft, nur mit Beethoven zu vergleichen. Der Unterschied ist aber, vereinfacht ausgedrückt, dass Mahler als Komponist weit weniger chaotisch als Beethoven notiert hat, eigentlich sogar sehr präzise, denn er musste es ja als Dirigent selbst ausbaden. Dafür hat Mahler aber weit mehr revidiert. Bei der Ersten Symphonie liegen zwischen der 1888 entstandenen ersten Partiturreinschrift und der letzten Revision von 1910 mehr als zwei Jahrzehnte. Das ist eine riesige editorische Herausforderung, an die ich mich nur heranwage, weil ich mich bereits als leidenschaftlicher Spurensammler durch die Musikgeschichte gearbeitet und dabei viel gelernt und entdeckt habe. Dabei kommen mir meine praktischen Erfahrungen als Dirigent und eine gewisse, wohl angeborene Neugier und Entdeckerfreude zugute, solchen Spuren nachzugehen und sie auch zu verstehen. Dazu gehört nicht nur philologisches Handwerk, das ich mir als musikwissenschaftlicher Quereinsteiger durch „learning by doing“ erarbeitet habe, sondern auch musikalische Intuition. Und natürlich Glück, neue Quellen zu entdecken. Unbedingt erwähnen möchte ich das fantastische Mahler-Team bei Breitkopf, das mich tatkräftig und kompetent bei der Arbeit unterstützt. Ohne diese Unterstützung würde es nicht funktionieren.
DW: Und aus der Perspektive des Dirigenten gesprochen?
CRR: Sie können sich sicher vorstellen, was es bedeutet, die verloren geglaubten Uraufführungsstimmen von Dvořáks „Neuer Welt“-Symphonie oder Beethovens für die ersten Aufführungen 1814 benutzte Fidelio– Partitur in den Händen zu halten. Da können Sie unmittelbar nachvollziehen, welche Veränderungen in den letzten Proben vorgenommen wurden. Das ist fast so, als wäre man selbst dabei gewesen. Ähnlich erging es mir übrigens auch, als ich die von Mahler kollationierten Orchesterstimmen, die er für seine letzten Aufführungen in New York benutzte, vor mir liegen hatte. Da stellt sich fast ein Gefühl von physischer Nähe ein, das einem erlaubt, Blicke durch ein Fenster in eine Welt zu erhaschen, die sonst verschlossen ist. Ein Beispiel: Das berühmte Triothema des II. Satzes [singt] ist in den Partiturquellen sehr unterschiedlich notiert, zunächst mit Bögen und Akzenten, dann zusätzlich mit Glissando, später ersetzte er die Akzente durch Schweller, fügte eine Nebenstimme und mit „zart“ einen weiteren verbalen Vortragshinweise hinzu. Kurz, man sieht, wie Mahler um den richtigen Ausdruck dafür gerungen hat. In der von ihm 1910 revidierten und als „correct für den Neudruck“ bezeichneten Stichvorlage – es ist bereits der dritte „Erstdruck“! – tilgte er die Bögen und Glissandi. Offenbar waren ihm die Glissandi zu schmalzig, zu wenig zart. Aber seine in der Partitur nur intentionale Notierung wird erst verständlich, wenn man sie im Tandem mit den Bogenstrichen in den Stimmen liest [singt]. So wurde es unter seiner Leitung aufgeführt. Vielleicht hat Mahler das bei der Probe auch vorgesungen. Sehr spannend!
Ein Gefühl von physischer Nähe, das einem erlaubt, Blicke durch ein Fenster in eine Welt zu erhaschen
DW: Wie bereits erwähnt, stellt die Neuausgabe aller Symphonien Mahlers ein äußerst ambitioniertes Projekt des Verlags dar. Auf welche Besonderheiten dürfen sich die Orchester dabei freuen und warum werden sie nach Erscheinen die Mahler- Symphonien bestimmt lieber aus der Breitkopf-Neuausgabe spielen wollen?
CRR: Das dürften vor allem die praktischen Features sein, angefangen von dem großzügigen Format und Rastral der Stimmen bis hin zu Wendehilfen und Orientierungssystemen mit Stichnoten, Zählhilfen, strukturellen Pausen. Auch an transponierte Stimmen für heute nicht mehr gebräuchliche Wechselinstrumente oder zusätzliche Stimmen wie z.B. für die von Mahler mitunter gewünschten Verstärkungen des Orchesterapparates ist gedacht. Vielleicht ist auch hilfreich, dass das Aufführungsmaterial komplett käuflich angeboten wird, durch das Subskriptionsangebot sogar mit Rabatt. Einmal angeschafft und eingerichtet, wäre das eine nachhaltige, noch dazu günstige Investition in ein eigenes Material.
DW: Pünktlich zum Jubiläumsjahr des Verlags 2019 erscheinen bereits die Erste Symphonie und der dazugehörige Symphonische Satz „Blumine“. Sicher interessiert es die Orchester weltweit ebenso brennend, wie es nach diesem Auftakt weitergeht. Werden Sie auch für weitere Symphonien die Herausgeberschaft übernehmen?
CRR: Ich bin von Natur aus nicht nur unverbesserlich neugierig, sondern auch optimistisch. Daran wird sich wohl kaum noch etwas ändern lassen [lacht]. Ich bin jedenfalls bereit dazu. Was in der Zukunft liegt, liegt nicht in meiner Hand. „Vederemo“ – ein Wort, das sich häufig in Mahlers Briefen findet –, wir werden sehen.
DW: Gibt es bereits einen Zeitplan für die Veröffentlichung der weiteren Symphonien? Wann soll das ganze Projekt vollendet sein?
CRR: Ja, einen Zeitplan gibt es, auch eine starke Wunschvorstellung für den Abschluss des Projekts. Da ist sich das gesamte Mahler-Team einschließlich der Leitung des Hauses ganz einig. Aber damit verhält es sich ähnlich wie mit dem Label „Urtext“, Absichtserklärungen zählen nicht. Die genauen Erscheinungstermine werden bekannt gegeben, wenn es tatsächlich so weit ist.