Musiktheorie im Selbststudium? Fragen an Thomas Krämer

  • von Frank Reinisch
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Breitkopf & Härtel Musiktheorie

Sein Leben lang hat Thomas Krämer die Fächer Harmonielehre, Kontrapunkt und Analyse unterrichtet. Noch 2019 kehrte er dafür an die Saarbrücker Musikhochschule zurück. Aktuell ist fraglich, wann wieder Lehrveranstaltungen stattfinden – der „Selbststudium“-Aspekt von Krämers Büchern hat jetzt besondere Relevanz. Grund genug, den Autor zu befragen.

Frank Reinisch (FR): Lieber Herr Krämer, vor einigen Monaten sind die Praktischen Harmonieübungen als Ergänzung der Harmonielehre erschienen, und wir freuen uns, dass dieses Zusatzmaterial offenbar viel gefragt ist. Zugleich jedoch werden wir im Verlag vermehrt mit Anfragen nach der Basisausgabe bestürmt, weil der Titel Harmonielehre im Selbststudium das häusliche Arbeiten ausdrücklich in den Vordergrund stellt. Nun findet sich der Aspekt des Selbststudiums jedoch nicht nur in Ihrer Harmonielehre, sondern auch im Untertitel Ihres Kontrapunkt-Buchs. Wodurch eignen sich denn gerade diese beiden Publikationen dazu, auf die einsame Insel, so sie denn mit einem Klavier ausgestattet ist, oder in die Quarantäne mitgenommen zu werden? 

links: Thomas Krämer | Harmonielehre im Selbststudium, S. 184 | rechts: Thomas Krämer | Kontrapunkt, S. 471

Thomas Krämer (TK): Ja, mit einem Klavier auf der einsamen Insel, das wäre wunderbar! Da könnte man meine Harmonielehre nehmen und sich ganz in Ruhe daran satthören, wie Mozart in seinem „Requiem“ irre Akkordverschiebungen erfindet, so irre, dass sie einem den Boden unter den Füßen wegziehen (Beispiel 16.11., S. 184). Oder man kann im Kontrapunktbuch studieren, wie Bach in seiner „Johannespassion“ einen martialischen Kriegsknecht-Chor schreibt, mit nur vier kurzen Themen, die er kunstvoll-chaotisch durcheinanderwirbelt und dadurch den Zuhörern grausame Botschaften mit Hilfe eines Permutationsfugatos vermittelt, nämlich die Würfelspiele unter dem Kreuz des zum Tode Verurteilten Jesus oder die Habgier auf sein unversehrtes Gewand. Das ist so genial gemacht, dass man es erst dann versteht, wenn man diese Musik mehrfach studiert, gespielt, analysiert und gehört hat. (Lösung 4.A.36, Seite 471).

Irre Akkordverschiebungen und kunstvoll-chaotische Wirbel

FR: Sie haben uns einmal von lebhafter direkter Resonanz Ihrer Leser berichtet. Erreichen Sie nach wie vor viele direkte Rückmeldungen, wie die Menschen mit den Büchern praktisch umgehen?

TK: O ja, vor 25 Jahren waren das noch Briefe, heute gibt es ausschließlich E-Mails. Gerne lassen die Leser übrigens darin ihren Frust ab, wenn sie etwas nicht verstanden oder vermeintliche Fehler gefunden haben. Oft werden auch kritische Fragen zu den Lösungsmodellen gestellt. Dennoch – wenn die E-Mails einigermaßen höflich formuliert sind, antworte ich geduldig und ausführlich, die übrigen werden sofort gelöscht. Es gibt aber auch viele Rückmeldungen von Lesern, die schlicht ihre Dankbarkeit über die Verständlichkeit und Methodik meiner Bücher äußern.

Die E-Mails der Leser: Kritische Fragen und viel Dankbarkeit

FR: Wir wissen, dass Ihre Musiktheorie-Bücher an vielen Hochschulen und Schulen verbindliche Literatur sind, d.h. der klassische Theorieunterricht findet auf ihrer Basis statt. Dies gilt auch für Ihr Lehrbuch der harmonischen Analyse, in dem das Selbststudium nicht explizit benannt wird – aber diese Verwendung ist doch sicher auch hier möglich, oder?

TK: Absolut, da sollte man mal über einen Untertitel nachdenken. Es wird ja die Hälfte der Aufgaben am Ende des Buches mit Funktionsvorschlägen gelöst.

Thomas Krämer

Thomas Krämer

FR: Da Sie im vergangenen Jahr Ihre Harmonielehre durch das lang erwartete zusätzliche Übungsheft bereichert haben, darf die Frage erlaubt sein: Soll es zur Analyse und zum Kontrapunkt. auch eines Tages weitere Übungen geben?

TK: Eigentlich wollte ich ja kein weiteres Buch mehr schreiben. Aber ein praktisches Übungsheft zur Harmonischen Analyse kann eigentlich nicht falsch sein, zumal dieses Thema ein wichtiges Ausbildungssegment ist und es dafür an methodisch durchdachter Literatur mangelt. Aber das Kontrapunktbuch ist dick genug, das reicht.

Noch ein Übungsheft zur Analyse – warum nicht?

FR: Zwei Ihrer Bücher haben wir noch nicht erwähnt. Das gemeinsam mit Manfred Dings verfasste Lexikon Musiktheorie (2005) und Musikwissen! 231 Fragen und Antworten (2015), auf das wir für Facebook schon einige Male sehr gern zurückgegriffen haben. Ein Nachschlagewerk und ein kurzweiliges Quizbuch – beide belegen Ihre umfassende Kenntnis der Musikgeschichte und der vielen verschiedenen Musikgenres. Und beide Taschenbücher sprechen eigentlich für sich selbst – oder würden Sie unseren Bloglesern auch dazu noch etwas mitgeben? 

TK: Ja, das Lexikon dient der Erstinformation über Begriffe aus der Musiktheorie. Kollege Dings und mir kam es darauf an, jede Erläuterung mit einem Notenbeispiel anschaulich zu untermauern. Und das Büchlein Musikwissen! wird gerne als heiteres Wissensspiel im Familienkreis verwendet. Insofern passt das gerade sehr gut zur Quarantänezeit.

FR: Wie stehen Sie unserer derzeitigen Aktion gegenüber, Ihre Bücher auch als E-Books zu einem etwas günstigeren Preis anzubieten?

TK: Damit hätte ich keine Probleme. Das Leseverhalten hat sich nun mal geändert. Allerdings überwiegt für mich bei einem gedruckten Buch nach wie vor das „Glücksgefühl“ des Haptischen: ich will etwas in der Hand haben, unmittelbar vorwärts und rückwärts blättern oder ein Buch riechen können. Vielleicht ist das ein etwas altmodischer Respekt vor der immensen Leistung des Autors. Aber auch das Eintragen von Anmerkungen, Funktionszeichen, Noten oder Hervorhebungen geht nun mal nicht beim E-Book. Insofern ist mir um meine sechs bei Breitkopf & Härtel erschienenen Lehrbücher in der Printfassung nicht bange.

 

Frank Reinisch

Frank Reinisch

Geb. 1955, Studium der Musikwissenschaft, Germanistik und Theaterwissenschaft an der Universität zu Köln, 1981 Promotion in Köln über „Das französische Oratorium von 1840 bis 1870“. Seit 1983 Musikredakteur im Verlag Breitkopf & Härtel, seit 2014 auch Lektor für Neue Musik.