Alexander von Humboldt als Pionier der Umweltbewegung

Faksimile_Mendelssohn_Humboldt-Kantate

Lange Zeit wurde Alexander von Humboldt, dessen Todestag sich im Mai 2019 zum 150. Mal jährte, als Figur von lediglich historischem Interesse missverstanden. Inzwischen ist nicht nur die herausragende Qualität seiner literarischen und wissenschaftlichen Schriften unbestritten, zunehmend wird auch seine Bedeutung als Vordenker der Globalisierung erkannt. Kaum jedoch ist bemerkt worden, dass er sich bereits vor über 200 Jahren als Pionier der inzwischen global zu beobachtenden Umweltbewegung erwiesen hat.

Die bahnbrechende Studie über den Valencia-See steht ganz am Anfang seiner großen Amerika-Reise. In Venezuela im Sommer 1799 erkennt Alexander von Humboldt erstmalig und umfassend die klimatische Funktion des Waldes. Er kann hierbei zurückgreifen auf frühere Beobachtungen aus der Zeit seiner Tätigkeit als preußischer Oberbergrat in Franken. In seiner Tagebuchnotiz zum See von Valencia nimmt er darauf ausdrücklich Bezug: »… die Flüsse selbst sind jetzt wasserärmer. Die umliegenden Gebirge sind abgeholzt. Das Gebüsch (monte) fehlt, um die Wasserdünste anzuziehen und den Boden, der sich mit Wasser getränkt, vor schneller Verdampfung zu schützen. Wie die Sonne überall frei Verdampfung erregt, können sich nicht Quellen bilden. Unbegreiflich, dass man im heißen, im Winter wasserarmen Amerika so wüthig als in Franken abholzt (desmonta) und Holz und Wassermangel zugleich erregt.«

Alexander von Humboldt, Gemälde von Henry William Pickersgill (1831)

Humboldt war gleich nach seiner Ankunft in Venezuela auf den zuletzt auffällig gesunkenen Wasserspiegel des Valencia-Sees aufmerksam geworden. Nach intensiven Messungen des Wassers, der Atmosphäre und der an den See grenzenden Flora gelangte er zu einer bis heute aktuellen Erkenntnis: Die elementare Funktion der Wälder für das Klima des Planeten. Die Wälder sind für Humboldt nicht nur das größte Reservoir für das im Boden gespeicherte Wasser. Sie regulieren durch Verdunstung gleichzeitig das, was Humboldt »periodische Regenschauer« nennt, also die Niederschlagsmenge. Hinzu kommt, was er als das »Erregen von Kälte« bezeichnet: Die thermische Wirkung der Wälder, »indem sie der Atmosphäre Wärmestoff entziehen, den sie mit Sauerstoff verbunden zurückgeben«. Schließlich verhindern die Wälder »schattengebend die Verdunstung« und Austrocknung des Bodens.

Bei seinem Versuch einer Reaktivierung der alten Gold- und Silberbergwerke im Fichtelgebirge hatte Humboldt in den Jahren 1792–95 bereits Gelegenheit gehabt, die Folgen einer überproportionalen Rodung der zum preußischen Fürstentum Ansbach-Bayreuth gehörenden Wälder zu beobachten. Er entwickelt hierbei den zentralen Gedanken der Nachhaltigkeit für die moderne Ökologie. Die Zerstörung der Natur aufgrund menschlicher Gewinnsucht tritt ihm in Gestalt von Rodungen ohne anschließende Wiederaufforstung vor Augen. Und er erkennt die fatalen Folgen für den Wasserhaushalt des Bodens und der Atmosphäre als Konsequenz des ständig wachsenden Holzbedarfs für das Bergwerk- und Hüttenwesen.

Es überrascht daher nicht, dass Humboldts Gedanke der Nachhaltigkeit im 19. Jahrhundert großdimensionierte Wiederaufforstungsmaßnahmen zur Folge hatte: Vor allem in Europa, USA und Australien.

Der deutsch-australische Historiker Weigl hat gezeigt, dass auf diese Weise durch Humboldts Klimaforschung das Umweltbewusstsein im 19. Jahrhundert zum ersten Mal in der Geschichte globale Dimensionen gewinnt. Hinzu kommt, dass Humboldt durch seine Erfindung der Isothermen (Linien gleicher Temperaturen) gleichzeitig auch die wissenschaftliche Grundlage der modernen Klimaforschung entwickelt hat.

Humboldt hat es nicht bei der Einsicht in die anthropogenen Klimafaktoren im Hinblick auf Wälder und Veränderungen der Hygrosphäre belassen. 1845, im ersten Band seines Kosmos, spricht er ausdrücklich von der »Vermengung [der Atmosphäre] mit mehr oder minder schädlichen gasförmigen Exhalationen«. Aber erst im 20. Jahrhundert wird man erstmals über den Zusammenhang zwischen dem – Ende des 19. Jahrhunderts von S. Arrhenius schon vermuteten – Anstieg des Kohlendioxyds in der Atmosphäre und der sich allmählich abzeichnenden anthropogenen Klimaveränderung fachwissenschaftlich diskutieren.

Hellsichtig hat Humboldt die Ambivalenz zwischen wissenschaftlich-technischem Fortschritt und der Gefahr wachsender Kollateralschäden antizipiert. Im 2. Band des Kosmos hat er die gefürchtete Entwicklung mit den Sätzen beschrieben: »Durch den Glanz neuer Entdeckungen angeregt, mit Hoffnungen genährt, deren Täuschung oft spät erst eintritt, wähnt jedes Zeitalter dem Culminationspunkte im Erkennen und Verstehen der Natur nahe gelangt zu sein. Ich bezweifle, dass bei erstem Nachdenken ein solcher Glaube den Genuss der Gegenwart wahrhaft erhöhe. Belebender und der Idee von der großen Bestimmung unseres Geschlechtes angemessener ist die Ueberzeugung, dass der eroberte Besitz nur ein sehr unbeträchtlicher Theil von dem ist, was bei fortschreitender Thätigkeit und gemeinsamer Ausbildung die freie Menschheit in den kommenden Jahrhunderten erringen wird. Jedes Erforschte ist nur eine Stufe zu etwas Höherem in dem verhängnisvollen Laufe der Dinge.«

Das Ergebnis war eine Komposition, deren Kühnheit und Originalität nur überboten wird durch die Konstanz des öffentlichen Desinteresses an diesem Werk.

Eine Einsicht, die ihn offenbar schon 1828 als Präsident der Gesellschaft der Ärzte und Naturforscher beschäftigt hat. Die im September 1828 in Berlin stattfindende internationale Tagung dieser Gesellschaft mit über 600 Wissenschaftlern (darunter der Mathematiker Karl Friedrich Gauß und der vom jungen Frédéric Chopin begleitete polnische Zoologe Pawel Jarocki) hatte Humboldt zum Anlass genommen, Felix Mendelssohn Bartholdy mit einer ungewöhnlichen Aufgabe zu betrauen. Humboldt, der seit seiner Jugend mit dem Hause Mendelssohn in freundschaftlicher Verbindung stand, hatte den 19-jährigen Felix beauftragt, eine Festkantate zu komponieren zu einem Text von Rellstab, der sich inhaltlich offenbar an Vorgaben Humboldts orientierte. Das Ergebnis war eine Komposition, deren Kühnheit und Originalität nur überboten wird durch die Konstanz des öffentlichen Desinteresses an diesem Werk.

Edition innerhalb der Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelsohn Bartholdy, Wiesbaden 2020

Eine weitere Aufführung der Kantate, die einer zweiten Uraufführung gleichkam, durch das Leipziger Gewandhausorchester fand erst im Januar 2009 statt! Das Werk ist, genau betrachtet, das Gegenteil einer Festkantate. In der musikalischen Faktur und in der in ihr angelegten Dramaturgie eine singulär frühe Warnung vor möglichen Rachefeldzügen der Natur. Unmittelbar nach dem »Willkommen« des Begrüßungschors folgt Verstörendes. Im Medium der Musik wird der Zuhörer unerwartet konfrontiert mit den Horror-Szenarien einer rachsüchtigen Natur. »Die Woge schäumt voll Ingrimm an den Damm« und »Es bricht der Sturm die mächtigen Blöcke aus dem Lager«. Humboldt lässt seine Kongressteilnehmer jedoch nicht nur die Verheerungen durch Flut- und Sturmkatastrophen musikalisch »erleiden«, er entfesselt auch die Feldzüge des Feuers und die von ihm selber anhand der Beispiele in Franken und Lateinamerika bereits beschriebenen Verheerungen durch Dürre.

Es sind Warnungen, die der junge Mendelssohn kongenial durch eine in seinen Werken einmalige und völlig ungewöhnliche Instrumentation sinnfällig werden lässt: Durch Weglassen hoher Streichinstrumente (Geigen und Bratschen), hoher Holzbläser (Flöten und Oboen) und der Frauenstimmen. Bevorzugt werden die Pauke sowie durchdringend obertonreiche Blasinstrumente, die klassischen Signalinstrumente Trompeten, Hörner und Klarinetten.

Die Schrecken der anthropogenen Klima-Katastrophe erscheinen in der Humboldt-Kantate allerdings nicht isoliert, sondern im Kontext von Therapie-Vorschlägen als künftig zu beachtende Anregungen an die Adresse der Kongressteilnehmer als Repräsentanten der modernen Wissensgesellschaft. Es sind Therapie-Vorschläge, die ausnahmslos den Versuch darstellen, die durch menschliche Eingriffe empfindlich gestörte und von Humboldt erkannte Harmonie und »Wechselwirkung« der Natur gleichsam durch tätige Reue wiederherzustellen. In diesem Zusammenhang thematisiert die Humboldt-Kantate im 6. Satz ausdrücklich das Problem der Wiederaufforstung.

Erstausgabe der „Humboldt-Kantate“, Leipzig 1930

Die Zeit der Entstehung und ersten Aufführung dieser musikalischen Vorwegnahme der modernen Umweltbewegung koinzidiert auffällig mit zeitgleichen ökologischen Überlegungen des Humboldt-Bewunderers Goethe. Bei Goethe, dem Humboldt über seine Lateinamerikareise wiederholt berichtete, findet sich im zweiten Teils der Faust-Tragödie eine faszinierende Parallele zu den Rachefeldzügen der Natur in der Humboldt-Kantate.Was hier durch den Dammbruch thematisiert wird, ist auch Gegenstand des durch die Sorge erblindeten Faust. Als moderner Kolonisator und global tätiger Unternehmer greift er massiv in die Natur ein, unter anderem, um dem Meer durch Dammbauten Land abzugewinnen. Es ist Mephisto, der hier Umweltkatastrophen mit den Worten prophezeit: »In jeder Art seid ihr verloren; – /Die Elemente sind mit uns verschworen, / Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.« Eine »Vernichtung« durch die entfesselten »Elemente«, die Mephisto im Lichte von Kollateralschäden des Fortschritts auch ökonomisch als Nullsummenspiel bilanziert: »Was ist daran zu lesen?/Es ist so gut, als wär es nicht gewesen, / Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre. / Ich liebe mir dafür das Ewig-Leere.«

 Wer die Natur nicht empfindet, sondern nur theoretisch betrachtet, der wird ihr ewig fremd bleiben.

Humboldt hatte bereits vor seiner Lateinamerikareise Goethe in Weimar besucht, dessen pantheistischem Naturverständnis er als »Naturforscher« von Anfang an nahestand. Der für Goethes Natur- und Weltfrömmigkeit zentrale Gedanke des Spinoza »deus sive natura« (Gleichsetzung von Gott und Natur) hat auch Humboldt beschäftigt. Er hat Goethe 1807 nicht nur sein Werk Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse gewidmet, sondern ihm drei Jahre später brieflich bekannt: »Wer die Natur nicht empfindet, sondern nur theoretisch betrachtet, der wird ihr ewig fremd bleiben.« Als Leitspruch ökologischen Denkens dürfte der Satz gerade heute aktuell sein.


Felix Mendelssohn Bartholdys „Humboldt-Kantate“ mit dem Titel Begrüßung (MWV D 2) erschien soeben innerhalb des Bandes VII/3 der Mendelssohn-Gesamtausgabe (Werke für Männerstimmen und Orchester, SON 452). Der Erstdruck des Werkes wurde postum 1930 anlässlich der Wiederaufführung zur 91. Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte – abgehalten im selben Jahr in Königsberg – bei Breitkopf & Härtel veröffentlicht.

Erstmals erschienen in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte Nr. 5/2009, S. 74-77. Mit freundlicher Genehmigung.
Titelbild: (c) Staatsbibliothek zu Berlin – PK
Manfred Osten

Manfred Osten

* 19. Januar 1938 in Ludwigslust, Mecklenburg ist ein deutscher Autor, Jurist und Kulturhistoriker. Im Jahre 1952 flüchtete er in die Bundesrepublik Deutschland und absolvierte sein Abitur in Bad Iburg, danach studierte er Rechtswissenschaften, Philosophie, Musikwissenschaften und Literatur in Hamburg und München sowie Internationales Recht in Luxemburg. 1969 promovierte er „Über den Naturrechtsbegriff in den Frühschriften Schellings“. Im selben Jahr trat er in den Auswärtigen Dienst ein, wo er in deutschen diplomatischen Missionen in Paris, Kamerun, Tschad, Australien und Japan tätig war. Zwischenzeitlich stand er im Ministerium in Bonn unterschiedlichen Referaten vor („Südliches Afrika“, „Dritte-Welt-Politik“ oder „Osteuropa“). Von 1995 bis 2004 war er Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung.

Er publiziert vor allem kulturwissenschaftliche und kulturhistorische Werke.